Der drittletzte Wettkampftag zeigte noch mal, wie sie sich das im deutschen Team vorgestellt hatten bei den Olympischen Spielen. Satte sechs Medaillen, breit gefächert von Kraft bis Eleganz, gewonnen im Einzel, Doppel, als Quartett und Mannschaft, brachte der Freitag. Vor allem die deutschen Frauen konnten noch mal für ein wenig Ergebniskosmetik sorgen.
Yemisi Ogunleye gewann Gold im Kugelstoßen, Darja Varfolomeev triumphierte in der Rhythmischen Sportgymnastik, die Sprintstaffel der Frauen holte Bronze, ebenso die Fußballspielerinnen. Zudem war auf das deutsche Element einmal mehr Verlass: Gold vom Kajak-Zweier auf und Silber durch Schwimmer Oliver Klemet im Wasser. Damit feierte die deutsche Mannschaft zwölf Olympiasiege. Vor drei Jahren bei den Spielen in Tokio belegten deutsche Athleten zehnmal Platz eins. Und dennoch ist der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) mit der Bilanz von Paris nicht zufrieden.
„Man kann der deutschen Mannschaft attestieren, dass viele Leistungen außergewöhnlich waren. Aber wir sind selbstkritisch genug zu sagen, dass wir auch einen sehr schwierigen Weg hinter und noch vor uns haben und natürlich im Medaillenspiegel seit geraumer Zeit eine Rückwärtsbewegung verzeichnen“, sagt Olaf Tabor, beim DOSB als Chef de Mission für Paris 2024 verantwortlich, im Gespräch mit WELT AM SONNTAG.
Schaut man sich die Gesamtergebnisse der Sommerspiele seit der Wiedervereinigung an, wird der Abwärtstrend vor allem in der abnehmenden Menge an Podestplatzierungen deutlich. 1992 in Barcelona nahmen deutsche Athleten noch 82 Medaillen mit nach Hause. 2004 in Athen sank die Summe unter 50, in Tokio waren es nur noch 37. Nun sind es für Team Germany 33: zwölfmal Gold, 13 Mal Silber, achtmal Bronze. Zahlen und Trend sind alarmierend, auch wenn das angestrebte Ziel, ein Top-Ten-Platz im Medaillenspiegel, am Ende erreicht wurde. Die USA und China haben jeweils mehr Olympiasiege als Deutschland Medaillen insgesamt.
„Wir können leistungsmäßig mit der Weltspitze an vielen Stellen mithalten, haben es vielfach unter die Top Acht gebracht“, sagt Tabor: „Insofern ist es in der Breite des Auftretens eine für uns sehr erfreuliche Situation, dass unsere Athletinnen und Athleten international in vielen Sportarten auf Weltklasseniveau konkurrenzfähig sind. Wir hätten uns aber ein paar mehr Medaillen versprochen bei den guten Leistungen, die es gegeben hat – ganz klar.“
Tabor meint damit Wettkämpfe wie das Finale der Schwimmer über 100 Meter Brust: Der Berliner Melvin Imoudu verpasste einen sensationellen Goldcoup nur um die Winzigkeit von acht Hundertstelsekunden. Er wurde für seine starke Leistung aber nicht mal mit einer Medaille belohnt.
Fehlende Perspektive für deutsche Athleten
Gute Leistung ohne Lohn – auch Florian Unruh kennt das. Nach einem Wettkampf auf höchstem Niveau musste sich der deutsche Bogenschütze im Einzel mit Platz vier zufriedengeben. Was ihm auch äußerst schnell gelang, da er sich leistungsmäßig nicht viel vorzuwerfen hatte. „Ich bin nicht verärgert, ein vierter Platz ist supergut. Ich bin zufrieden“, sagte der 31-Jährige und erklärte anschließend die ungleichen Voraussetzungen in seinem Sport.
Dass Kim Woojin seine dritte Goldmedaille bei diesen Spielen holte und auch das Duell um Bronze an einen Südkoreaner ging, war erwartet worden. „Da wird wirklich gesagt: ,Okay, wir packen unsere Ressourcen in den Bogensport und – soweit ich weiß – noch vier andere Sportarten.‘“ In der Praxis bedeute das 240 Profis, Frauen wie Männer, die alle bei südkoreanischen Firmen angestellt sind und sich ausschließlich auf die Ausübung ihres Sports konzentrieren können. Eine Fokussierung, die selbst Unruh aber nicht bedingungslos kopieren würde: „Wir in Deutschland streuen es ja eher breiter“, weiß Unruh, der mit Michel Kroppen schon im Finale des Mixed-Wettbewerbs den Südkoreanern unterlegen war: „Und ich persönlich bin eher für den deutschen Ansatz.“
Verbesserungspotenzial erkennt Unruh jedoch in einem anderen Punkt. Die Südkoreaner hätten eine herausragende Nachwuchsarbeit, was vor allem daran liege, dass zahlreiche erfolgreiche Schützen im Anschluss als Trainer arbeiten. Das schaffe den Sportlern eine Perspektive über ihre aktive Zeit hinaus, und die Jugend profitiere von der Wissensweitergabe. Eben nicht zufällig, sondern institutionalisiert.
Beobachtungen, die auch beim DOSB längst gemacht wurden. „Immer mehr Nationen erscheinen hier auf der Bildfläche, konzentrieren sich auf bestimmte Sportarten und holen dort Medaillen“, hatte Präsident Thomas Weikert vor den Spielen gewarnt. Und: „BundestrainerInnen müssen sich immer noch von Zeitvertrag zu Zeitvertrag hangeln, und wir wundern uns dann, dass sie uns in den sicheren Lehrerberuf oder ins Ausland abhandenkommen. Speziell im Leistungssport hat sich zusätzlich eine Förderbürokratie verselbstständigt, die Trainer und Betreuerinnen davon abhält, 24/7 mit ihren Sportlerinnen und Sportlern arbeiten zu können.“
Die Niederlande machen es Deutschland vor
Tabor deutet im Gespräch weitere Veränderungen an: „Es gibt einen Trend in der internationalen Leistungssportentwicklung zu internationalen Trainingsgruppen, also länderübergreifend in bestimmten Sportarten“, sagt er. Insbesondere in technischen Disziplinen habe sich das zuletzt als Erfolgsmodell herauskristallisiert: „Es ist natürlich immer auch die Frage der Verfügbarkeit von Spezialsportstätten. An beiden Stellen können wir deutlich mehr tun für die Zukunft.“ Können? Besser: müssen.
Zudem muss sich Deutschland – Gesellschaft und Politik – einmal mehr fragen, was es bereit ist, für Medaillen zu investieren. Welchen Stellenwert hat Leistungssport? „Ich würde ihn gern nicht nur bei Olympia, sondern auch mal bei Weltmeisterschaften oder deutschen Meisterschaft sehen. Stattdessen wird uns das Geld weiter gekürzt, wenn wir Erfolge feiern“, sagte Rennkanute Tom Liebscher-Lucz, Mitglied des Kajak-Goldvierers, über den Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz an der Regattastrecke.
Geld wird aber auch an anderen Stellen des deutschen Systems dringend benötigt. Neben einem Sanierungsstau bei den Sportstätten, von Weikert jüngst auf 31 Milliarden Euro taxiert, scheinen Nachwuchsförderung und Trainerausbildung größte Baustellen zu sein. „Wir brauchen definitiv eine bessere Talentsuche und Talentförderung“, bestätigt Tabor: „Es gibt Stellschrauben, die sich zu verändern lohnen und wo wir, um an der Weltspitze dranzubleiben oder in manchen Sportarten wieder hinzukommen, auch Veränderungen schaffen müssen.“
Was er meint: Aus viel wird (zu) wenig gemacht. In Deutschland treiben mehr als 28 Millionen Menschen organisiert in 86.000 Vereinen Sport. Das sind neun Millionen mehr als die Niederlande Einwohner haben – und die im Medaillenspiegel erneut vor den Deutschen liegen. Weil das Land besser sucht, findet und fördert, wie Tabor glaubt. „Ich bin davon überzeugt, dass wir kreativer sein müssen. Vielleicht sind wir ein bisschen zu starr in unserem System gewesen in der Zulassung von speziellen Projekten, die sich erfolgreich anhören, bei denen wir aber mit unseren eigenen Vorgaben nicht so unterstützen konnten, wie man es hätte tun sollen. Wir brauchen mehr Flexibilität, und wir brauchen mehr Sportartenspezifik. Denn was gut für die eine Sportart ist, muss noch lange nicht gut sein für die andere.“
Bis dahin muss das Positive in den Vordergrund gestellt werden. Einige Topfavoriten lieferten in Paris ab: Die Reiter Michael Jung und Jessica von Bredow-Werndl oder Rudergigant Oliver Zeidler und Lukas Märtens, der für den ersten Olympiasieg eines deutschen Beckenschwimmers seit 36 Jahren sorgte. Zudem lief es in den Teamsportarten deutlich besser als in Rio oder Tokio. „Da hat die Arbeit, insbesondere im Nachwuchsbereich und speziell bei den Frauen, dazu geführt, dass wir jetzt viele Teams bei Olympia gesehen haben“, sagt Tabor. An Vorbildern mangelt es im eigenen Team also nicht. Arbeit, Nachwuchs, Förderung: Der Weg ist erkannt. Jetzt muss er auch geplant und eingeschlagen werden.