Sports
Ist Deutschland noch ein Sportland?
Mit dem nationalen Spitzensport geht es seit Jahren stetig bergab. Das hat Gründe. Eine Annäherung in mehreren Akten.
Die Olympischen Spiele wie auch die Paralympics von Paris werden am Sonntag im Kurhaus von Baden-Baden noch einmal glamourös Salut sagen. Bei der Gala der traditionsreichen Veranstaltung “Sportler des Jahres” erinnert der deutsche Sport an seine großen Momente 2024 mit stimmungsvollen, von heroischen Klängen unterlegten Filmsequenzen.
Und ja, es hat etliche davon gegeben, die es wert sind, im stilvollen Rahmen inmitten von eleganten Abendkleidern und festlichen Anzügen noch mal aufzuleben. Allein in Paris feierten die deutschen Spitzensportlerinnen und -sportler 22 Goldmedaillen – und jede einzelne steht als bemerkenswerter Triumph für sich.
Der deutsche Medaillenspiegel wird immer dünner
Zugleich aber kehrt ein anderes Thema mit Wucht zurück, das nach Paris ganz kurz aufflackerte, kurz hitzig diskutiert wurde und seitdem zumindest hinter den Kulissen weiter schwelt: Das generelle Abschneiden bei den Olympischen Spielen fädelt sich, 22-mal Gold hin oder her, nahtlos ein in den seit vielen Jahren festzuhaltenden sukzessiven Niedergang des deutschen Spitzensports.
Mit insgesamt 33 Medaillen gab es bei den Spielen in Paris für Deutschland so wenige wie seit 1952 nicht mehr – für ein Land, das sich jahrzehntelang als große Sportnation sah und nun mitansehen muss, wie es von anderen Ländern mit deutlich weniger Einwohnern überholt wird. In Zahlen liest sich dies wie folgt: 1992, als Deutschland erstmals nach der Wiedervereinigung wieder mit einem Gesamtteam bei Olympia antrat, holten die Sportlerinnen und Sportler 82 Medaillen. Seitdem ist es abgesehen von einigen kleineren Ausreißern kontinuierlich bergab gegangen, nun mit den besagten 33 als Tiefpunkt.
Das ist erbärmlich für ein Land wie Deutschland. Wir haben ein maximales Missmanagement im Sport.
Handball-Funktionär Bob Hanning
Im Medaillenspiegel belegte Deutschland nur Rang 10, bis zu Tokio 2021 war Schwarz-Rot-Gold immer unter den Top 6 zu finden. Nun musste das fast 83 Millionen Einwohner zählende Deutschland mitansehen, wie sich der kleine Nachbar Niederlande mit seinen rund 17 Millionen Einwohnern keck um drei Plätze vorbeidrängelte. Setzt man die errungenen Medaillen in Relation zur Einwohnerzahl, belegt die Bundesrepublik Rang 19. Da passt es ins Bild, dass sie ein Jahr zuvor bei der WM der Leichtathletik, der Mutter aller Sportarten, erstmals keine einzige Medaille holte.
Vor diesem Hintergrund fällte Handball-Funktionär Bob Hanning nach Paris ein hartes, aber nachvollziehbares Urteil: “Das ist erbärmlich für ein Land wie Deutschland. Wir haben ein maximales Missmanagement im Sport.”
Was ist Deutschland der Sport wert?
In der Tat muss sich Deutschland fragen, ob es wirklich noch ein Sportland ist. Und auch wenn der Spitzensport das Aushängeschild sein mag, so hat diese Frage sehr viele Facetten. Wäre im Breitensport alles prima, könnten zum Beispiel all diejenigen zufrieden in die Hände klatschen, die dem Spitzensport skeptisch gegenüberstehen und einen Medaillenspiegel als antiquiert ablehnen. Das mit dem “Hauptsache Sport machen” hat jedoch einen Haken: Der Breitensport gibt ein in manchen Bereichen noch beklagenswerteres Bild ab als sein Aushängeschild. Somit muss es insgesamt gesehen auch heißen: Was ist uns der Sport wert?
Dieses Wert-sein besitzt zwar nicht nur eine rein monetäre Seite, da sie aber die wohl entscheidende ist – und zudem exakt zu benennen -, wird sie zuallererst beleuchtet. 331 Millionen Euro für den Spitzensport sind im deutschen Bundeshalt 2024 eingeplant. Um dies einordnen zu können, lassen sich als Vergleichsgröße die für ihre Spitzensportförderung bekannten US-Elite-Universitäten heranziehen. Allein die Stanford University, die in Paris mit 59 Sportlern und Sportlerinnen aus 14 Nationen vertreten war, stellte 2024 für den Spitzensport ein Budget von rund 175 Millionen US-Dollar zur Verfügung.
Oder man nehme die Prämie, die es für eine Goldmedaille gibt: In Italien beträgt sie rund 180.000 Euro, in Spanien 94.000 Euro, in Frankreich 80.000 Euro – von Ausreißern wie Singapur mit fast 700.000 Euro erst gar nicht zu reden. Und hierzulande? Schlagen vergleichsweise mickrige 20.000 Euro zu Buche. Und diese können sich, wie vom deutschen Olympiasieger im Vierer-Kajak Max Rendschmidt vorgerechnet, durch steuerliche Abgaben und Kürzungen von Fördergeldern so reduzieren, dass beim Athleten letztlich nur 5000 Euro landen.
Das wenige Geld wird ineffizient eingesetzt
Die Höhe des eingesetzten Geldes freilich ist nicht der allein ausschlaggebende Faktor: Olaf Mintzlaff, der bei Red Bull für den Sport-Invest zuständige Geschäftsführer, führt zum Beispiel aus, dass der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) das meiste Geld an die Leichtathletik ausschüttete. Das Ergebnis fiel wie bereits angedeutet höchst dürftig aus, während zum Beispiel die mit weniger Mitteln bedachte Leichtathletik der Niederlande “ein ganz anderes Auftreten hatte”.
Wir schreiben Excel-Tabellen, die anderen trainieren.
Jörg Bügner, Sportvorstand des Deutschen Leichtathletik-Verbandes
Das mit dem Zu-wenig-Geld ist also nicht allein der springende Punkt, sehr entscheidend ist auch, wie die ausgeschütteten Mittel eingesetzt werden. Und in diesem Punkt sind sich die Aktiven, die Experten und auch die einzelnen Sportverbände nahezu durchgängig einig: ineffizient. Zu wenig Plan, zu viel Gießkannenprinzip und als Zugabe zu viel Bürokratie. Jörg Bügner, Sportvorstand des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV), hat noch in Paris plakativ festgehalten, dass “wir Excel-Tabellen schreiben, die anderen trainieren”.
Na, kommt Ihnen diese Zustandsbeschreibung bekannt vor? Klar, sie hört man in Deutschland aus den verschiedensten Bereichen fast täglich, wieso sollte der überall um sich greifende Reformstau ausgerechnet um den Sport einen Bogen schlagen?
Generell lässt sich jedoch gerade bei den olympischen Sportarten der Mangel an Wertschätzung der Protagonisten in erster Linie sehr wohl an den Finanzen festmachen. In vielen Verbänden können zum Beispiel viele Trainer von dem Gehalt allein schwerlich leben, zudem sind ihre Verträge oftmals befristet. Ein Bundestrainer, also derjenige an der Spitze, erhält im Schnitt 4000 Euro – brutto! Kein Wunder, dass viele Top-Leute ins Ausland gehen, um dort ein Vielfaches einzustreichen.
Augen auf bei der Sportwahl, könnte somit die sarkastische Quintessenz für alle Spitzenleute lauten, die nicht König Fußball angehören. Selbst diejenigen, die sich in der Weltspitze bewegen, haben in der Regel nach ihrer Karriere nicht ausgesorgt, ergo brauchen sie eine gute Ausbildung. Nur, diese mit dem notwendigen Trainingspensum unter einen Hut zu bringen, fällt in Deutschland jenen schwer, die nicht beim Staat im Zoll, bei der Bundeswehr oder der Polizei angestellt sind.
Vorbild USA – nicht nur bei Neugebauer
Womit wieder die Elite-Universitäten in den USA ins Spiel kommen: Sie bieten nicht nur Top-Bedingungen, sondern lassen auch Hochleistungssport mit einem Studium prima verbinden. Bestes Beispiel: der deutsche Zehnkämpfer Leo Neugebauer, Halter des deutschen Rekords und Silbermedaillen-Gewinner von Paris. Sein Talent stach bereits ins Auge, als er für den VfB Stuttgart startete.
Leo Neugebauer und Konstanze Klosterhalfen profitierten vom Sportsystem der USA.
imago images (2)
Den Sprung in die Weltspitze schaffte er aber in erster Linie dank der Betreuung der Texas University in Austin, an der er mithilfe eines Sportstipendiums Wirtschaftswissenschaften studierte. Auch Sprint-Queen Gina Lückenkemper musste in die USA gehen, um 2022 in München 100-Meter-Europameisterin zu werden, genau wie Konstanze Klosterhalfen über die 5000 Meter.
Wer indes kein Stipendium erhält und auch nicht beim Staat angestellt sein will, wird sich zweimal überlegen, ob er auf die riskante Karte Hochleistungssport setzt. So manche verheißungsvolle Karriere war deswegen beendet, ehe sie richtig begann.
Mangelhafte Zustände der Sportstätten
Zu den mangelhaften Strukturen gehört auch der Zustand der Sportstätten, er spottet häufig jeder Beschreibung. In so mancher Turnhalle einer Kommune oder eines Vereins würde man sich nicht wundern, wenn einem plötzlich Turnvater Jahn auf die Schulter tippt. So machen sich die im Bundeshaushalt generell für den Sport bereitgestellten Mittel von 2,3 Milliarden Euro zwar imposant aus.
Eingedenk der Tatsache, dass der DOSB den Sanierungsstau an deutschen Sportstätten mit rund 30 Milliarden Euro beziffert, erscheinen die besagten 2,3 Milliarden in einem ganz anderen Licht. Klar, es handelt sich nur um eine Schätzung, aber gewiss um keine zu hoch gegriffene. Das können landauf, landab alle im Sportmanagement Tätigen bestätigen, vom Ehrenamtler bis zum Hauptamtlichen.
Nun ließe sich einwenden, was der generelle Zustand der Sportstätten mit der Zahl an gewonnenen Medaillen zu schaffen hat? Nun ja, je schlechter der ist, umso weniger verleitet er dazu, Sport zu machen. Und je kleiner der Kreis an Aktiven ist, desto geringer fällt der Fundus aus, aus dem der Spitzensport schöpfen kann.
Auch die Gesellschaft hat sich verändert
Dass Deutschland laut Experten mittlerweile ein Land der Sportmuffel geworden ist, hat zudem eine gesellschaftliche Dimension. Der akute Bewegungsmangel führt dazu, dass rund 60 Prozent aller Männer und rund 45 Prozent aller Frauen übergewichtig sind, fast 20 Prozent aller Erwachsenen gelten als adipös, also als fettleibig.
Die Folgen? Die Herz- und Kreislauferkrankungen nehmen zu, die Lebenserwartung in Deutschland sinkt trotz eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt und liegt in den westeuropäischen Ländern nun weit jenseits der Top 10. Und es droht eine weitere Generation nachzuwachsen, für die das Jogging-Outfit nur ein Mode-Accessoire ist. Vier von fünf Jugendlichen kommen laut einer WHO-Studie nicht mehr auf den empfohlenen Richtwert von 60 Minuten Bewegung pro Tag.
Mit Blick auf die ohnehin bereits explodierenden Kosten im Gesundheitswesen erscheint der Vorschlag des bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder mehr als sinnvoll, dass sich die Kinder in Kindergärten und Schulen pro Tag mindestens mal 30 Minuten bewegen. Doch, was passiert konkret? Werden Vorbereitungen dazu getroffen, dass wie in norwegischen Schulen in den Schulalltag eine Stunde Sport pro Tag eingebaut wird? So etwas lässt sich schließlich nicht über Nacht einführen.
Fehlanzeige, der sportliche Alltag an den Schulen wird nicht nur in Bayern erst mal so bleiben, wie er sich derzeit darstellt: zwei Stunden pro Woche, von denen die Hälfte ausfällt und die andere dann häufig in maroden Sportstätten stattfindet. Wie soll da dem Nachwuchs der Sport nachhaltig so schmackhaft gemacht werden, dass er sie wie in vielen skandinavischen Ländern als selbstverständlicher Teil des Alltags ein Leben lang begleiten wird?
Kinder haben Spaß daran, sich zu messen. Das liegt in unserer Natur.
Felix Neureuther, ehemaliger Weltklasse-Skifahrer
Dass bei Kindern und Jugendlichen mit den sozialen Medien, den Computerspielen und auch einem gewachsenen Schulpensum ein mächtiger Gegner für das Sporttreiben erwachsen ist, leugnet keiner. Bei der Frage, wie dem zu begegnen ist, meinen einige, das Ei des Kolumbus gefunden zu haben: einfach den Wettkampf abschaffen, und alles wird gut.
Keine Sieger mehr bedeute auch, dass es keine Verlierer mehr gebe – und schon gewinnt der Sport, weil vom Druck befreit, beim Nachwuchs an Attraktivität. Wirklich? Felix Neureuther, ehemaliger Weltklasse-Skifahrer und ein prominenter Fürsprecher des Sports, kann darüber nur den Kopf schütteln: “Kinder haben Spaß daran, sich zu messen. Das liegt in unserer Natur.”
Das abgeschaffte Leistungsprinzip als Sinnbild?
Wohl wahr, bei den Fußball-Bambini etwa wurden schon lange die Tabellen und die Sieger- ehrungen abgeschafft. Zwar nicht der Wettkampf, aber das Bewusstsein, dass sich der Gewinner feiern darf und der Verlierer ins nächste Training kommen muss, um bald auch etwas zu feiern zu haben. Genauso ist es mehr als zweifelhaft, dass zum Beispiel die Reform der Bundesjugendspiele ohne echten Wettkampf Kinder und Jugendliche motiviert, die Sportschuhe zu schnüren. Mintzlaff befürchtet eher das Gegenteil: “Der Sport wird bei uns immer irrelevanter.”
Die Ehrenurkunde ist bald Geschichte: Die Bundesjugendspiele sollen in Grundschulen ohne eine Bewertung der Leistungen stattfinden.
picture alliance / CHROMORANGE
Ein Umstand, der sich gerade für den Leistungssport fatal auswirkt, denn damit wird ihm das entzogen, auf dem er basiert. Dass gerade in unserer Leistungsgesellschaft das Prinzip Leistung infrage gestellt wird, wirkt fast schon skurril, der Umgang damit müsste eigentlich nicht nur im Sport von klein auf erlernt werden, denn ohne Leistung kein Erfolg – und der drückt sich beileibe nicht nur durch Medaillen aus. Außerdem: Spaß an der Bewegung zu haben und gleichzeitig auf Siege aus zu sein, schließt sich ja nicht aus – vielmehr ist Letzteres ohne Ersteres gar nicht möglich.
Doch egal, ob es im Hochleistungssport um das Anvisieren eines Weltrekords geht oder der Hobbysportler seine persönliche Bestmarke auf seiner Hausrunde knacken will: Beides findet unter dem Dach des Sports in Deutschland statt. Und der wiederum steckt in einer veritablen, aus vielen Facetten bestehenden Krise, die nach grundlegenden Reformen schreit.