Beim Schuhplattler strahlte Schottland-Star John McGinn die Freude aus, die der erste deutsche EM-Gegner auch beim Eröffnungsspiel verspüren möchte. Nach der klassisch bayerischen Einstimmung in Garmisch-Partenkirchen mit Alphörnern und Empfangskomitee in Tracht fokussiert sich das Team um Kapitän Andy Robertson ganz auf die große Herausforderung am Freitag (21.00 Uhr, im Sport-Ticker der WELT) in München.
„Ganz schwierig für uns, aber wir freuen uns und werden alles geben“, sagte Liverpool-Verteidiger Robertson. Der Außenseiter der Gruppe A setzt zum EM-Auftakt neben den eigenen verbesserten Qualitäten insbesondere auf die Unterstützung durch Zehntausende Fans.
Britischen Medien und offiziellen Stellen zufolge könnten 500.000 Anhänger von der Insel nach Deutschland kommen. Darunter sollen 200.000 Schotten sein. Nur wenige schaffen es aber auch ins Stadion. „Der Einfluss der Fans ist riesig. Auch wenn es nicht viele Eintrittskarten gibt, überrascht mich die Zahl nicht“, sagte Co-Trainer John Carver. Abwehrspieler Scott McKenna nahm die Mannschaft in die Pflicht. „Wir wollen versuchen eine Leistung zu zeigen, auf die die Fans stolz sein können“, sagte der 27-Jährige, der zuletzt für den FC Kopenhagen spielte.
Die Tartan Army will das Motto „No Scotland, no Party“ mit Leben füllen. Die Anhänger aus dem Whiskey-Land, deren erstes Spiel ausgerechnet in der Oktoberfest-Metropole München stattfindet, gelten aus trinkfest. „Mein Tipp an die Fans: Genießt das Bier, aber passt auch auf dabei. Habt Spaß“, rät der in München lebende Dirigent und Hornist Bob Ross. „Die Fans sollen Spaß haben und erleben hoffentlich ein Fußball-Märchen.“
Nagelsmann und Füllkrug loben
Doch ist das für den Gruppenletzten der vergangenen EM, als es wenigstens ein beachtliches 0:0 gegen Rivalen England gab, überhaupt möglich? Für Bundestrainer Julian Nagelsmann ist Schottland längst keine klassische Kick-and-Rush-Mannschaft mehr, er bescheinigt den Schotten „wirklich viel Potenzial“. Auch BVB-Stürmer Niclas Füllkrug betonte, dass die Schotten keine reine Mauer-Mannschaft seien, sondern auch mit druckvollem Pressing zu gefallen wüssten.
Für viele Experten wie etwa den früheren BVB-Profi Paul Lambert ist die aktuelle Generation stark einzuschätzen. „Viele unserer Nationalspieler sind auf einem hohen Level unterwegs“, sagte der 54-Jährige.
Zwar konnte nur eines der vergangenen neun Länderspiele gewonnen werden; aber wer Spanien 2:0 im März 2023 schlägt, kann auch Deutschland im Sommer 2024 gefährlich werden. Einen Trainer-Ruhepol, wie es der 60-jährige Steve Clarke ist, besorgen Statistiken sowieso nicht. „Wir hoffen auf einen guten EM-Start“, sagte er im Turnier-Camp unweit der Zugspitze. In Sichtweite der berühmten Kandahar-Abfahrt fühle man sich „sehr wohl“.
Mourinho-Assistent als Erfolgsfaktor
Der frühere José-Mourinho-Assistent Clarke trägt seit 2019 die Verantwortung für das Nationalteam. Nach zehn verpassten Welt- und Europameisterschaften führte er die Bravehearts bei der EM 2021 auf die große Fußball-Bühne zurück – vor allem mit den Grundtugenden des Spiels. Jetzt ist Schottland zum vierten Mal bei einer EM dabei. Die erste K.o.-Runde ist der Traum – aber in einer Gruppe mit Deutschland, der Schweiz und Ungarn wird das schwer.
Entscheidend könnte werden, ob der im vergangenen Jahr plötzlich zum Torjäger avancierte Mittelfeldspieler Scott McTominay von Manchester United seine Serie fortsetzt. Der 27-Jährige ebnete mit sieben Toren den Weg zur EM-Endrunde. Nur die Stürmer Romelu Lukaku (Belgien/14 Tore), Cristiano Ronaldo (Portugal/10), Kylian Mbappé (Frankreich/9) und Harry Kane (England/8) trafen öfter.
McTominay konnte in den Tagen vor der Garmisch-Ankunft nicht voll trainieren. Er soll gegen Deutschland aber ebenso fit sein wie Robertson, der Anfang der Woche als Vorsichtsmaßnahme etwas kürzertrat. „Wir wollen sicherstellen, dass wir für das erste Spiel alle fit und einsatzbereit sind“, sagte Clarke-Assistent Carver.
Die vielen schottischen Fahnen und Zehntausende in Schottenröcken sollen aus Deutschland unvergessliche Bilder in die Heimat liefern. „Die Dudelsack-Kapellen werden für eine beeindruckende Atmosphäre sorgen“, prophezeite Musiker Ross und scherzte. „Die Biergartenbesuche – das ist natürlich ein Klischee. Aber es gibt auch diesen schottischen Witz. Was ist der Unterschied zwischen einer schottischen Hochzeit und einer Beerdigung? Es gibt einen Betrunkenen weniger.“