Was steckte wirklich hinter dem rätselhaften und beispiellosen Doping-Beben um einen der größten deutschen Leichtathleten der Geschichte?
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Das Doping-Beben, das Deutschland erschütterte
Vor 25 Jahren schockierte die Enthüllung des Doping-Falls Dieter Baumann Sport-Deutschland. Wurde er wirklich Opfer einer irrwitzigen Intrige? Der ungelöste Streit bewegt bis heute.
Zum 25. Mal jährte sich in dieser Woche der Tag, an dem die Affäre Dieter Baumann öffentlich wurde. Es war ein Paukenschlag, wie ihn Sport-Deutschland noch nie erlebt hatte. Und der Beginn eines beispiellosen Glaubenskrieges, der die am Thema interessierte Nation in zwei Lager spaltete.
War der positiv getestete Baumann tatsächlich Opfer eines ebenso perfiden wie skurril anmutenden Anschlags, vollführt an einer bzw. mehreren Tuben Zahnpasta? Über diese Frage zerstritten sich Verbände, Funktionäre, Juristen, seriöse Medien und auch anerkannte Dopingjäger und andere Wissenschafts-Koryphäen.
SPORT1 blickt auf den Fall zurück, stellt die gegenläufigen Thesen gegenüber – und hat nachgehakt bei einem der prominentesten Kritiker Baumanns, der dem einstigen Starläufer seine Version der Geschichte bis heute nicht glaubt.
Vom Doping-Mahner zum angeblichen Sünder
Die unbestrittenen Fakten sind folgende: Am 19. Oktober 1999 und am 12. November 1999 wird Mittelstreckenläufer Baumann bei Urinkontrollen positiv auf das anabole Steroid Nandrolon getestet. Am 19. November enthüllen Baumann, der seine Unschuld beteuert, und der Deutsche Leichtathletik-Verband den Vorgang – und senden damit Schockwellen durch die Sportnation.
Ausgerechnet Baumann? Der 5000-Meter-Olympiasieger von Barcelona 1992 war schließlich nicht nur als Ausnahmeläufer bekannt geworden, sondern auch als lauter Anti-Doping-Mahner und Kämpfer für harte und konsequente Sanktionen, auch strafrechtliche.
„Baumann hat sich stets für einen sauberen Sport eingesetzt und gilt als Vorkämpfer gegen das Doping“, erinnert Tagesschau-Sprecherin Susanne Daubner die verdutzten Zuseher, als sie in den ARD-Hauptnachrichten die Meldung verliest. Und es folgt noch eine Wendung, die auch kaum spektakulärer hätte sein können.
Manipulierte Zahnpasta-Tube rückt ins Zentrum
Um sich selbst zu entlasten, gibt Baumann dem Kölner Dopingforscher Wilhelm Schänzer – international bekannt für seine maßgebliche Rolle bei der Überführung von Ex-100-Meter-Weltrekordler Ben Johnson – die Erlaubnis, sein Haus zu durchstöbern.
Das unglaublich anmutende Ergebnis: Schänzer findet heraus, dass Baumanns Zahnpastatube manipuliert ist. In das Zahnputzmittel ist Norandrostendion injiziert – ein Wirkstoff, der im Körper in Nandrolon umgewandelt wird.
Als später noch eine zweite „gespikete“ Zahnpastatube gefunden wird, scheint bestätigt, dass der damals 34 Jahre alte Baumann tatsächlich Opfer einer Verschwörung geworden ist. Der Schwabe spricht von einem „kriminellen Akt“ und erstattet Anzeige.
Der Heidelberger Professor Werner Franke, zusammen mit seiner Frau Brigitte Berendonk führend bei der Aufarbeitung des DDR-Staatsdopings, glaubt Baumann – auch weil ihm die Art der Manipulation bekannt vorkommt.
„Baumann hat sich sehr für den Kampf gegen Doping engagiert. Seine Zahnpastatuben waren verseucht, erwiesenermaßen eine alte Stasi-Methode. Baumann hat zu viele Leute an sich rangelassen“, sagte der 2022 verstorbene Molekularbiologe 2006 dem Spiegel. Baumann selbst versprach 100.000 D-Mark Belohnung für sachdienliche Hinweise auf den oder die Täter.
DDR-Täter? Ein Rivale? Die Spekulationen blühen
Die Spekulationen blühten damals: War die Zahnpasta-Manipulation die Rache alter DDR-Dopingseilschaften, die Baumann gegen sich aufgebracht hatte? War es ein Konkurrent, der Baumann loswerden wollte?
Anfang 2000 wehren sich Baumanns Rivalen Stéphane Franke und Damian Kallabis mit eidesstattlichen Versicherungen dagegen, dass Langstrecken-Kollege Christian Thörner sie als theoretisch mögliche Täter benannte.
Die Idee wurde später auch genährt durch den halbfiktionalen Doku-Film „Ich will laufen!“ von 2004, in dem Baumann als unschuldiges Opfer und der 2011 früh an einem Hirntumor verstorbene Stéphane Franke – zwei Jahre vor der Affäre Baumann selbst unter Dopingverdacht – als verschlagen anmutender Neider porträtiert wird.
Eine andere Spur führte im Jahr 2000 durch einen anonymen Hinweis zu einem ungenannten Funktionär mit DDR-Vergangenheit. Baumann und seine Frau Isabelle äußerten wiederholt Vermutungen, dass trübe Gestalten aus dem In- oder Ausland Baumann womöglich diskreditieren wollten, um zu verhindern, dass er selbst nach der Karriere als Funktionär aktiv und mit seinem Aufklärungseifer ihre Kreise stören würde.
Belastbar erhärtet haben sich die Vermutungen über externe Täter allerdings nie.
Dieser Test ist für Experte Sörgel besonders verdächtig
Zu denen, die die These vertreten, dass es keinen Täter gibt, gehört der Nürnberger Pharmakologe Professor Fritz Sörgel, der damals ebenfalls in den Fall involviert war.
„Ich glaube nicht, dass die Geschichte stimmt, dass ihm das untergejubelt wurde“, sagt Sörgel zu SPORT1. Stutzig macht ihn vor allem ein Detail, das vielen heute nicht mehr in Erinnerung ist.
Sörgel erinnert an den Umstand, dass Baumanns Nandrolon-Werte schon ab August 1999 auffällig waren – allerdings unterhalb der erlaubten Grenzwerte. Fragen wirft für Sörgel vor allem ein Test vom 5. September 1999 vor einem Wettbewerb in Köln auf. Es war ein von Baumann freiwillig absolvierter Bluttest, eigentlich dazu gedacht, dem damals auch im Radsport grassierenden Blutbeschleuniger EPO auf die Spur zu kommen.
Als Sörgel einige Monate später im Auftrag der ermittelnden Staatsanwaltschaft Tübingen einen Nachtest mit neuerer Methodik durchführte, wies er auch darin das in der Zahnpastatube gefundene Norandrostendion nach – in einer Menge, die so „nur unmittelbar nach der Einnahme einer Substanz zustande gekommen sein konnte – der Mund ist für bestimmte Formen von Arzneien ideal, es geht direkt von der Mundschleimhaut ins Blut“. Baumann muss sich demnach vor dem Wettbewerb die Zähne geputzt haben. Genau so stellte Baumann es dann auch dar – als Vorbereitungsritual.
Der Fund widerlegt nicht Baumanns Darstellung, ein Verschwörungsopfer zu sein – es würde ja sogar zusammenpassen, dass der unbekannte Täter Baumanns angebliche Marotte ausgenutzt hat, um ihm die Dopingsubstanz raffiniert zu verabreichen.
Sörgel allerdings hält die Geschichte für zu kurios, um wahr zu sein. Für ihn ist die Theorie plausibler, dass Baumann selbst die Zahnpasta versetzt und bewusst verwendet hat – nicht zum Muskelaufbau, sondern zur unmittelbaren Leistungs- und Regenerationsstimulation. Eine zufriedenstellende Klärung der Angelegenheit bekamen am Ende aber weder Baumanns Kritiker noch Baumanns Verteidiger.
Neues Leben auf der Kleinkunst-Bühne
Der DLV – intern selbst tief gespalten über den Umgang mit der Affäre – sprach Baumann im Sommer 2000 letztlich frei. Der Weltverband IAAF allerdings kassierte das Urteil ein und sperrte Baumann für Olympia 2000 in Sydney und darüber hinaus bis Anfang 2002. Baumann kämpfte auch vor dem internationalen Sportgerichtshof CAS vergeblich um seine Reinwaschung. Die staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Ermittlungen in Deutschland wurden ergebnislos eingestellt.
Baumann kehrte letztlich zurück auf die Strecke und errang noch einen größeren Erfolg mit Silber bei der Heim-EM 2002 in München. Die Erinnerung an die Zahnpasta-Affäre überlagert allerdings weiter alles. Baumann selbst kann damit inzwischen leben, wie er in den vergangenen Jahren vielfach betont hat.
Trotz seines Comebacks war Baumann durch die Affäre der eigentlich geplante Karriere-Weg zum Funktionär verbaut, der heute 59-Jährige fand aber andere Betätigungsfelder – als Trainer, Lauf-Organisator, Hobbyläufer und auch als Bühnenfigur.
Baumann agiert inzwischen als Kabarettist und Kleinkünstler, 2012 trat er mit einer Theateradaption von Siegfried Lenz‘ Roman „Brot und Spiele“ in fünf verschiedenen Rollen auf. Es gab positive Kritiken, unter anderem ernstgemeintes Lob der Satirezeitschrift Titanic: Baumann sei „auf der Bühne zu keinem Zeitpunkt außerhalb seines Elements“.
Zu den Details der Doping-Affäre äußert sich Baumann seit längerem nicht mehr öffentlich – von selbstironischen Bemerkungen auf der Kabarettbühne abgesehen.
„Es ist verrückt: Ich muss nur ‚Zahnpasta‘ sagen und alles lacht“, schilderte er 2020 der DPA: „Es ist ein Phänomen, dass ein einziges Wort so etwas auslösen kann. Toll!“