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Bahncard100: 18-Jähriger lebt seit 2022 in Zügen der Deutschen Bahn
Der 18-jährige Lasse Stolley lebt als digitaler Nomade in den ICE-Zügen der Deutschen Bahn und fährt jeden Tag 1000 Kilometer durch Deutschland.
Mit seiner Bahncard 100 reist er erster Klasse, schläft in Nachtzügen, frühstückt morgens in den DB-Lounges und duscht in öffentlichen Schwimmbädern.
Der freiberufliche Programmierer hat keinen festen Wohnsitz und lebt in den Tag hinein: „Ich habe extrem große Freiheiten und kann jeden Tag entscheiden, wohin ich möchte.“
Wenn der 18-jährige Lasse Stolley morgens aufwacht, blickt er direkt in etliche Gesichter. Von früh bis in die Nacht hinein ist er dann unter Menschen – an jedem Tag. Nie Stillstand, immer ist er unterwegs. Denn Stolley lebt als digitaler Nomade ohne festen Wohnsitz in den Zügen der Deutschen Bahn (DB). Auf deren Sitzplätzen schläft er nachts, arbeitet tagsüber umgeben von anderen Passagieren als Programmierer und bereist dabei das ganze Land.
„Privatsphäre beim Leben im Zug existiert gar nicht“, sagt Stolley im Interview mit Business Insider. Damit aber hat der Aussteiger kein Problem, denn sein Lebensstil hat in seinen Augen viele Vorteile: „Ich habe extrem große Freiheiten und kann jeden Tag entscheiden, wohin ich möchte, ob in die Alpen, in eine Großstadt oder ans Meer. Da bin ich voll flexibel.“
Inzwischen hat der Teenager 500.000 Kilometer Zugstrecke zurückgelegt – zwölf Erdumrundungen
Morgens prüft er per App mögliche Bahnverbindungen und entscheidet abhängig von Wetter und Laune, an welchen Ort es ihn verschlägt. Zumeist zieht es Stolley in touristische Regionen, etwa an das Ostseebad Binz auf der Insel Rügen oder hinauf auf Deutschlands höchsten Berg, die Zugspitze. „Da mache ich oft kleine Wanderungen, denn Bewegung ist in meinem Alltag ziemlich verankert.“
Wann immer er in Berlin ist, läuft er ein paar Kilometer des Mauerwegs ab, um die Hauptstadt besser kennenzulernen. „Berlin ist einfach magisch, weil es eine vielfältige Stadt ist. Sie ist gut erreichbar für mich und es gibt immer was zu sehen.“ Mehrmals in der Woche steigt er hier aus dem ICE. „Ich bin aber auch alle paar Tage in Frankfurt und in München.“
Hunderttausende Kilometer hat Stolley inzwischen auf deutschen Schienen zurückgelegt. Das entspricht etwa zwölf Erdumrundungen. Den Entschluss, sein Elternhaus im schleswig-holsteinischen Fockbek zu verlassen und fortan im Zug zu leben, fasste er als 16-Jähriger. Damals, im Sommer 2022, hatte er die Realschule abgeschlossen und eine ihm fest versprochene Ausbildung zum Fachinformatiker antreten wollen. Als die kurzfristig abgesagt wurde, machte der Teenager einen neuen Plan: Inspiriert von einer Youtube-Doku kaufte er sich eine Bahncard 100, fährt seitdem unbegrenzt mit der DB durch Deutschland und dokumentiert sein Leben in einem Blog.
Und was halten seine Eltern von seinem Lebensstil? Sie hätten zunächst skeptisch reagiert, bei der Vorstellung, ihr minderjähriger Sohn würde fortdauernd im ICE umherreisen. „Ich musste einiges an Überzeugungsarbeit leisten“, erinnert sich Stolley. Nachdem sie gemeinsam die rechtlichen Fragen abgeklärt hatten, löste er sein Kinderzimmer auf, verkaufte sein Hab und Gut und trat am 8. August 2022 seine erste Fahrt nach München an.
Leben im Zug – ein extrem minimalistischer Lebensstil
„Die Anfangsmonate waren eine harte Zeit und ich musste extrem viel lernen, wie das überhaupt alles funktioniert.“ Nachts habe er damals kaum im Zug schlafen können, sei dafür tagsüber immer wieder eingenickt. Er verpasste Züge und strandete spät und in der Dunkelheit an fremden Bahnhöfen. „Alles war anders, als ich es mir vorgestellt hatte“, sagt er. Erst mit der Zeit hätten ihn die Erfahrungen gelehrt, wie das Leben im Zug funktioniert.
Heute weiß Stolley, dass vor allem die richtige Organisation zählt. „Ich muss jede Nacht darauf achten, dass ich den Nachtzug erreiche und teilweise ganz schnell umplanen, weil der auf einmal nicht ankommt.“ Außerdem lebt er unterwegs extrem minimalistisch: All seinen Besitz trägt er in einem 36-Liter-Rucksack mit sich. Diesen sehr begrenzten Raum muss Stolley optimal nutzen. Vier T-Shirts, zwei Hosen, ein Nackenkissen und eine Reisedecke – Platz für Überflüssiges bleibt ihm nicht. „Das Wichtigste sind mein Laptop und meine Kopfhörer mit Geräuschunterdrückung, die mir zumindest ein bisschen Privatsphäre in der Bahn geben.“
Im Jahr kostet Stolley das Leben im Zug eigenen Angaben zufolge rund 10.000 Euro. Ein Großteil davon entfällt auf seine kleine Ausrüstung, die mit dem enormen Gebrauch schnell verschleißt. Hinzu kommen kleinere Posten wie Eintritte für Museen oder öffentliche Schwimmbäder, in denen Stolley duscht. Essen kauft er im Supermarkt – oder er bedient sich einfach kostenlos an den Buffets der DB-Lounges an größeren Bahnhöfen. Am teuersten kommt ihm die Bahncard 100 Erste Klasse mit einjähriger Gültigkeit zu stehen, die Stolley zum Jugendpreis von 5888 Euro gekauft habe. Seine Eltern unterstützten ihn aber weiterhin mit Geld, so Stolley. Über sie ist er auch krankenversichert und unter ihrer Adresse amtlich gemeldet. Über Wasser hielt er sich außerdem, indem er auf selbständiger Basis Apps für ein Kölner IT-Startup entwickelte. Da Stolley inzwischen auch einiges an Aufmerksamkeit erlangt hat, konnte er bei Siemens Mobility einen Job ergattern.
„In den Nachtzügen wird sehr viel geklaut“
Ab und an plagen Stolley Sorgen über die Sicherheit an Bord der Züge. „In den Nachtzügen muss man sehr auf sein Gepäck achten, es wird sehr viel darin geklaut.“ Gerade, wenn es durch Ballungsräume wie das Ruhrgebiet gehe. Aus Stolleys Sicht fehlt es hier an ausreichend Sicherheitspersonal gegen Diebstähle, Gewalt oder randalierende Fahrgäste. Gut laufe das immerhin auf der Strecke zwischen Frankfurt und Hamburg. „Da hat man Sicherheitspersonal an Bord und da würde ich mir eine Ausweitung für alle Nachtzüge in Deutschland wünschen.“
Er würde die Bahn gern im Hinblick auf Service und Sicherheit beraten, sagte Stolley im März 2024. Wie kaum ein anderer Fahrgast kenne er schließlich die einzelnen Zugmodelle und wisse auch, was in den Abläufen gut klappe und was nicht.
„Mein Wunsch wäre, Feedback an die Verkehrsunternehmen, beispielsweise die Deutsche Bahn oder die Hersteller der Züge, zu geben und das vergütet zu bekommen.“ Mitarbeitende des Linienmanagements hätten ihn zwar bereits ihr Büro eingeladen, um dort seine Erfahrungen und Beobachtungen zu teilen. Für eine feste Zusammenarbeit jedoch habe es bisher noch kein entsprechendes Angebot gegeben. „Aber schauen wir mal“, schiebt er hinterher.
Führt ihr selbst einen außergewöhnlichen Lebensstil und wollt eure Erfahrungen teilen? Dann meldet euch bei uns.
Dieser Text erschien im März 2024. Er wurde inhaltlich geprüft und im November erneut veröffentlicht.