Fitness
Deutschland, Handballland: Wie der urdeutsche Sport um Wachstum kämpft
Wimpel, Fahnen, Banner überall. In den Straßen von Herning ist die Handball-Weltmeisterschaft nicht zu übersehen. Das 50.000 Einwohner und Einwohnerinnen zählende Städtchen im mittleren Jütland hat sich für das Großereignis herausgeputzt. So wie immer, wenn in der Arena, die den Namen der zweitgrößten dänischen Bank (Jyske Bank) trägt, ein Großevent ansteht. Lady Gaga, Justin Bieber, Britney Spears, Rammstein, Metallica, sogar Helene Fischer – viele Stars der Konzertbranche haben in der 15.000 Zuschauer und Zuschauerinnen fassenden Mehrzweckhalle bereits gespielt.
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Die Stadt, die auch für ihre Metall- und Möbelindustrie bekannt ist, bietet seit Jahrzehnten auch dem Leistungssport eine Bühne. Im Badminton, Springreiten, Tischtennis, Eishockey, Ringen und Handball wurden hier Welt- und Europameister gekürt. Vor 13 Jahren rollte der Giro d’Italia durch die dänische Provinz. Jetzt wird in der Jyske Bank Boxen wieder Handball gespielt.
So wie vor sechs Jahren, als die Arena nach dem WM-Titel der Gastgeber eine berauschende Metamorphose zum rot-weißen Freudenhaus erlebte. Seitdem werden die Dänen nach Weltmeisterschaften in ihrer Hauptstadt in steter Regelmäßigkeit gefeiert. „Liebe Weltmeister, einige von euch kennen den Weg raus auf den Balkon ja schon.“ So begrüßte Kopenhagens Oberbürgermeisterin Sophie Hæstorp Andersen vor zwei Jahren die bis dato letzten dänischen Weltmeister. Dreimal WM-Gold hatten sie da in Folge gewonnen – ein Novum in der 87-jährigen WM-Geschichte. Entsprechend ist es keine Überraschung, dass der Balkon für den 3. Februar, und somit den Tag nach dem WM-Finale, reserviert ist.
Handball heißt auch: kaum Pfiffe, kaum Häme
Inspiriert vom Handball war vor sechs Jahren der damalige WM-Co-Gastgeber Deutschland. Das Land, das die Sportart einst erfunden hatte, staunte wieder über die Nahbarkeit und Bodenständigkeit der Spieler, über das schnelle, spektakuläre Spiel. Und es staunte auch über den vermeintlich besseren Fußball: keine Pfiffe während der Nationalhymnen, kaum Häme gegen gegnerische Spieler.
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Der Handball füllte plötzlich die Arenen, selbst bei Spielen ohne deutsche Beteiligung. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen freute sich über starke Einschaltquoten in einer Zeit, die sonst neben Alleinherrscher Fußball von Biathlon und Skispringen dominiert wird. Eine Erklärung: Die Menschen in Deutschland lechzten nach nahbaren Profisportlern. Authentisch, ehrlich, mit Leidenschaft und Herzblut. Denn Handball ist Kunst und Maloche.
Nahbar und bodenständig: Deutschlands Torhüter David Späth geht auf Tuchfühlung mit den Fans.
Quelle: IMAGO/wolf-sportfoto
Die WM 2019 wurde somit zum Warm-up für das vom Deutschen Handballbund (DHB) ausgerufene „Jahrzehnt des Handballs“, das die Relevanz der Sportart steigern, im Idealfall einen Boom auslösen soll. Ein wichtiger Baustein: internationale Turniere im eigenen Land. Und da wurde ganze Arbeit geleistet. Die „Perlenschnur der internationalen Handball-Großereignisse in Deutschland“, wie sie DHB-Präsident Andreas Michelmann nennt, begann 2023 mit der U21-WM, erlebte im Vorjahr mit der Männer-EM ihren ersten Höhepunkt. Es folgen gemeinsam mit den Niederlanden die Frauen-WM 2025 sowie die Männer-WM 2027 als Frankreichs Partner. Das Jahrzehnt endet schließlich 2032 mit EM-Co-Gastgeberschaften bei den Frauen (mit Polen und Dänemark) und Männern (mit Frankreich).
Bisherige Erkenntnis: Kein Handballland konnte bisher so gut Großereignisse ausrichten wie Deutschland, das somit auch Vorbild für die aktuellen Gastgeber Dänemark, Norwegen und Kroatien ist. „Die EM 2024 hat dafür einen neuen Maßstab gesetzt, wie Handball auf globaler Ebene fesseln und begeistern kann“, lobte der sonst eher zurückhaltende Präsident des europäischen Verbandes, Michael Wiederer. 1.008.660 Zuschauer und Zuschauerinnen in 65 Turnierspielen bedeuten eine Bestmarke in der EM-Geschichte. Der Weltrekordkulisse zum Turnierauftakt im Düsseldorfer Fußballstadion mit 53.586 Fans folgten Spiele in Mannheim, Berlin, München, Hamburg und Köln. Insgesamt wurden mehr als 96 Prozent aller Tickets verkauft. „Die EM war unfassbar, das beste Turnier“, schwärmte Dänemark-Star Mathias Gidsel vom Bundesliga-Klub Füchse Berlin.
Großereignisse als Werbung für den Sport
„Wir haben historische Tage für unseren Sport geschaffen“, sagte Michelmann und ergänzte: „Und dazu haben wir in verschiedenen Bereichen eine gewisse Nachhaltigkeit erzielt.“ So wurden während der EM-Tage 1000 Nachwuchstrainer ausgebildet, der Transport der Mannschaften wurde von der Luft auf die Schiene verlegt. „Auch der wirtschaftliche Erfolg war nicht so ganz ohne“, sagte Michelmann. Denn unterm Strich spülte die EM knapp drei Millionen Euro in die Verbandskasse. Und es bescherte dem mit 765.368 Mitgliedern (Stand: 1. Januar 2024) ohnehin schön größten Handball-Verband der Welt einen neuen Mitgliederschub. Auch wenn die aktuellen Zahlen noch ausstehen, erwartet Michelmann „viel Gutes, eine Steigerung von um die zehn Prozent, insbesondere in der relevanten Gruppe der sechs- bis 14-Jährigen“.
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Für den Verbandschef sind Großevents im eigenen Land essenziell für die Entwicklung des Handballs. „Mehr Werbung für deine Sportart geht nicht.“ Dass sich der Handball durch die Flut der Großereignisse in Deutschland selbst das Wasser abgräbt, sieht Michelmann nicht: „Wir sind von der Handballfamilie gewählt worden, mit dem Ziel, den deutschen Handball erfolgreich zu machen.“ In einer Heim-EM oder -WM sieht er Topkatalysatoren. „Wenn der Welt- oder der europäische Verband der Meinung ist, wir machen das so gut, dass sie uns den Zuschlag einmal öfter erteilen, dann sollte man uns dafür nicht kritisieren. Unsere Aufgabe ist, für den deutschen Handball zu kämpfen und für den deutschen Sport. Und das machen wir auch.“
Das Fernziel ist eine Olympia-Bewerbung
Das Jahrzehnt des Handballs soll aber nicht nur Erlebnisse, sondern auch Ergebnisse liefern. Mit dem WM-Gold der Junioren und EM-Platz vier sowie Olympia-Silber der Männer hat es das bereits. Nun folgt das nächste Kräftemessen mit den besten Teams der Welt. Zum Auftakt geht es an diesem Mittwoch gegen Polen (20.30 Uhr, ARD). Für die nächsten Olympischen Spiele 2028 in Los Angeles sieht das Konzeptpapier zum Jahrzehnt des Handballs nicht weniger als eine Finalteilnahme vor.
Michelmann sieht mit den sieben Sportgroßveranstaltungen binnen zehn Jahren gar einen Beitrag des Handballs, „um Deutschland auf eine Bewerbung als starken Gastgeber Olympischer Spiele vorzubereiten“. Der 65-Jährige ist zu „einhundert Prozent“ ein Befürworter. „Einen größeren Beschleuniger für den Sport, ihn dahin zu rücken, wo er wirklich hingehört, in die Mitte der Gesellschaft, gibt es nicht.“ Olympische Spiele sind für Michelmann zudem die ideale Möglichkeit, den Sport infrastrukturell und in der Breite zu entwickeln. „Weil du nicht nur Gastgeber sein, sondern auch gut abschneiden willst.“ Mit der Perspektive Olympia sieht er für die Gesellschaft sogar die Chance, das Thema Leistung wieder stärker in den Mittelpunkt zu rücken, „als es im Moment der Fall ist. Und da kann der Sport natürlich eine Vorreiterrolle einnehmen.“
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Die aktuelle Handball-WM ist demnach nur ein Zwischenschritt in Richtung Heim-WM 2027 und Olympia-Bewerbung für 2036 oder 2040? „Nein“, sagt Michelmann, „es ist ein weiterer Schritt in Richtung Stabilisierung des Leistungsanspruchs. Und unser Anspruch ist immer, eine Mannschaft zu haben, die in der Lage ist, ins Halbfinale zu kommen. Das ist unser Ziel, auch wenn es bei der Leistungsdichte in der Welt mal nicht reicht. Und da ist diese WM wieder ein guter Gradmesser, wo wir stehen.“
Denn der Weg ist mit dem aktuellen Turnier längst nicht beendet. Das Jahrzehnt des Handballs geht weiter.