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Zuwanderung und Wohlstand: Daten widerlegen populären Irrtum
Ohne Zuwanderung leben in Deutschland bald viel weniger Menschen – vor allem im Erwerbsalter zwischen 15 und 65 Jahren. So viel ist sicher.
Aber ist das auch ein Problem? Oder verteilt sich der Wohlstand dann nicht auf weniger Menschen, bleibt pro Kopf also gleich oder steigt sogar?
Daten der Deutschen Bank widerlegen diesen populären Irrtum. Mit weniger Menschen im Erwerbsalter schrumpft das Wirtschaftswachstum auch pro Kopf. Für Deutschland ist das eine Warnung.
Im Streit um mehr oder weniger Zuwanderung spielt die Entwicklung der Bevölkerung eine wichtige Rolle. Unstrittig ist, dass in Deutschland ohne Zuwanderung bald viel weniger Menschen leben. Aber warum sollte das ein Problem sein, fragen manche. Verteilt sich dann nicht die Wirtschaftsleistung auf weniger Menschen – und pro Kopf bleibt der Lebensstandard gleich oder steigt sogar? Neue Zahlen zeigen, dass dies ein populärer Irrtum ist. Sie belegen, wie stark Wachstum und Wohlstand auch pro Kopf von der Bevölkerung im Erwerbsalter abhängen. Für Deutschland enthalten sie eine Warnung.
Ein Team der Deutschen Bank Research hat sich dafür Wirtschaftsdaten für das erste Viertel dieses Jahrhunderts angeschaut, das bald zu Ende geht. Sie stießen dabei auf einen klaren Zusammenhang zwischen der Bevölkerung im Erwerbsalter zwischen 15 und 65 Jahren und dem Wirtschaftswachstum in entwickelten Ländern (DM). Die folgende Grafik zeigt: Je stärker die Erwerbsbevölkerung wuchs, umso stärker wuchs die Wirtschaft. Dagegen haben alle fünf Länder, deren Erwerbsbevölkerung schrumpfte, das geringste Wachstum. Deutschland gehört dazu – neben Italien, Portugal, Griechenland und Japan. Abgebildet ist jeweils das mittlere Wachstum (CAGR) in den Jahren 2000 bis 2024.
Dieses Ergebnis leuchtet auch unmittelbar ein. Schließlich ergibt sich die Wirtschaftsleistung aus der Zahl der Erwerbstätigen und ihrer Produktivität. Also sollten auch das Wachstum von Erwerbsbevölkerung und Wirtschaft zusammenhängen.
Zuwanderung: die Frage nach dem Wohlstand pro Kopf
Wichtiger für die Entwicklung des Wohlstands in einem Land ist aber die Wirtschaftsleistung pro Kopf. Das ist ja ein Argument vieler Zuwanderungsgegner. Doch auch in der Pro-Kopf-Betrachtung ist der Zusammenhang klar und deutlich. Länder mit schrumpfender Bevölkerung haben nicht nur insgesamt ein geringeres Wirtschaftswachstum, sondern auch pro Kopf.
„Es gibt also überzeugende Belege, dass sich die rückläufige Bevölkerung nicht nur auf das reale Bruttoinlandsprodukt, sondern auch auf das Pro-Kopf-Wachstum auswirkt“, schreibt Deutsche Bank-Volkswirt Jim Reid. „Ich bin mir nicht sicher, ob dies allgemein anerkannt wird, insbesondere in der Migrationsdebatte“. Für Deutschland ist das besonders wichtig.
In Deutschland wächst das Problem gerade dramatisch. Denn die geburtenstarken Jahrgänge der Babyboomer scheiden jetzt aus dem Arbeitsleben aus. Weniger junge Menschen rücken nach. Innerhalb von nur zehn Jahren gehen in Deutschland 16,5 Millionen Babyboomer in Rente. Nur 12,5 Millionen starten neu in den Beruf. Jedes Jahr reißt die Lücke um weitere 400.000 Menschen auf.
Demografie: In Deutschland reißt die Lücke jetzt auf
Insgesamt sinkt die Zahl der Menschen im Erwerbsalter um neun Prozent. Ein Teil der Lücke kann geschlossen werden, indem mehr Frauen Vollzeit arbeiten, Menschen im Alter länger arbeiten, Arbeitslose besser qualifiziert und Geflüchtete besser in den Arbeitsmarkt integriert werden. Doch selbst all das wird nicht ausreichen. Anders gewendet: Ohne mehr Zuwanderung in den Arbeitsmarkt wird Deutschland Wachstum und Wohlstand verlieren.
Aber warum sinkt das Wachstum eigentlich auch pro Kopf, wenn die Bevölkerung inshesamt schrumpft. „Vielleicht liegt es zum großen Teil daran, dass die Bevölkerung weniger dynamisch wird, wenn sich die demografische Situation verschlechtert“, vermutet Reid. Ein anderer Grund ist, dass in Ländern mit einer schrumpfenden Bevölkerung auch der Anteil der alten Menschen steigt – und damit die Kosten für Renten und Pensionen, Gesundheit und Pflege. „Ein Grund dafür, dass das Pro-Kopf-Wachstum nicht so stark ist, liegt darin, dass wahrscheinlich viele Ressourcen in die Menschen jenseits des Erwerbsalters fließen“, schreibt Read.
Eine wichtige Kennzahl ist dabei das Verhältnis der Zahl der Menschen über 65 Jahren zu jenen im Erwerbsalter zwischen 15 und 64. Auch hier gibt es einen eindeutigen Zusammenhang. Je höher die Altersquote, umso geringer das Pro-Kopf-Wachstum der Wirtschaft.
„Es ist also schwer vorstellbar, dass man ein starkes Wachstum des Lebensstandards ohne eine wachsende Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter erreichen kann“, folgert Reid. Noch etwas kommt hinzu: Das Problem einer schrumpfenden Bevölkerung wird global. „Für das nächste Vierteljahrhundert können wir mit ziemlicher Sicherheit vorhersagen, dass in vielen Volkswirtschaften die Bevölkerung schrumpfen wird, und in noch mehr Ländern wird die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter abnehmen“. Damit wird auch der Wettbewerb um Talente und Arbeitskräfte weltweit zunehmen.
Um das Wachstum aufrecht zu halten, „müssen wir uns auf Zuwanderung oder Produktivitätswachstum verlassen“, schreibt Reid. Das Erste „ist global gesehen ein Nullsummenspiel und innenpolitisch derzeit ein heißes Eisen“. Bliebe die vage Hoffnung auf einen Schub bei der Produktivität: Reid: „Der Druck liegt dann wirklich auf der Künstlichen Intelligenz, etwas zu leisten“.